Neurowissenschaften, Psychosomatik und Yoga von Reinhard Bögle und Dr. Sanjay Phadke

Yoga versucht, die eigene Natur wahrzunehmen, zu begreifen und nach der Natur vorzugehen. „Nichts ist so zart wie die eigene Natur“ (Prakriti), heißt es in einem Yogatext. So liegt es auf der Hand, die Erkenntnisse über die Natur des Nervensystems zu studieren und nach der Natur des Nervensystems vorzugehen. Der "Stretching"-Vorgang ist das körper- und bewegungsbedeutsame Musterbeispiel dafür, was von den Neurowissenschaften gelernt werden kann. Es wird neurowissenschaftlich beschrieben, wie der verkürzte Muskel wieder in einen längeren Zustand mit erhöhter Aktionsmöglichkeit gebracht werden kann und wie dies durch zu starkes Ziehen über Reflexreaktionen des Nervensystems behindert wird. Das in der Yogatradition stehende Streching hat weltweit den gesamten Sport beeinflusst. In meinem Buch Yoga – Ein Weg für Dich – Einblick in die Yogalehre (1991) habe ich dies und weitere wichtige Grundlagen beschrieben (S. 64-69, S. 116-118 etc.). Für Yoga sind weitere neurowissenschaftliche Kenntnisse hilfreich. Ein wichtiges Gebiet ist der yogisch-ayurvedisch verstandene Tastsinn, zu dem Haut, Muskeln, innere Organe und Marmas gehören. Neurowissenschaftlich wird der Tastsinn in folgende Gebiete aufgeteilt:


  • die Hautwahrnehmungen (Oberflächensensibilität)

  • die Wahrnehmung aus den Sehnen, Muskeln, Gelenken, Knochen und Blutgefäßen (Tiefensensibilität)

  • die Wahrnehmung der inneren Organe (Viscerale Sensibilität)



Die Bedeutung des Tastsinns, auch Körperwahrnehmung genannt, habe ich in Erfolgsfaktor Gesundheit (2000) herausgestellt (vgl. S. 64 ff.).

Das Jahrzehnt von 1990 bis 2000 galt als Jahrzehnt des Gehirns. Der Neurowissenschaftler und Psychiater Dr. Sanjay Phadke hat dieses Jahrzehnt forschend und lehrend intensiv miterlebt. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalen Indischen Institut für Mental Health und Assistenzprofessor für Neurowissenschaften. Unter anderem wurde er von Prof. Dr. Ernst Pöppel (Medizinische Psychologie in München, damals einer der Direktoren des größten deutschen Forschungszentrums in Jülich) wegen seiner interessanten Arbeit über das Gehirn zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen. Über Jahre hinweg haben Dr. Phadke und ich die neurowissenschaftliche Beschreibung dessen, was bei Yoga geschieht, exploriert und diskutiert. Der erziehungswissenschaftliche Ansatz, den ich vertrete und der großen Wert auf eine genaue Theorie und eine nachvollziehbare, passende Anleitung der Yogaübungen legt, fand bei Dr. Phadke starke Resonanz und hat ihn angeregt, sein neurowissenschaftliches Denken und Wissen auf Yoga anzuwenden. Hier werden wichtige Ergebnisse es Konzepts vorgelegt. Soweit wir wissen, ist dies die bisher genaueste neurowissenschaftliche Betrachtung des Yoga und für Yoga.


Wie das Gehirn funktional organisiert ist

Das Großhirn besteht aus zwei Hälften mit stark gefalteter Oberfläche, die miteinander durch eine dicke Nervenverbindung, einen so genannten Balken, verbunden sind und dadurch trotz unterschiedlicher Spezialisierung ständig gemeinsam arbeiten. Die großen Furchen sind Orientierungsmarken für die Aufteilung der beiden Hälften der Rinde des Großhirns in jeweils vier funktionell unterscheidbare Abschnitte, die so genannten Lappen, die jeweils unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Die Rinde oder Oberfläche des Großhirns, die der Sitz von Denken und Bewusstsein ist, ist eine dünne Schicht von Nervenzellen, in der sich drei Viertel der 100 Milliarden Neuronen befinden (OECD, S. 65). Vier große Abschnitte lassen sich in jeder Hälfte unterteilen:



  • der Frontal- oder Stirnlappen

  • der Parietal- oder Scheitellappen

  • der Temporal- oder Schläfenlappen

  • der Okzipital- oder Hinterhauptlappen



Der vorn liegende Stirnabschnitt/Stirnlappen (Frontallappen) ist der Ort im Gehirn, an dem messbare Veränderungen stattfinden, während Menschen Absichten haben, planen und initiieren. Häufig wird etwas verkürzt beschrieben, dass zu den Aufgaben die Bewegungssteuerung und die Assoziierung der Funktionen anderer Rindenareale gehören. Der seitliche, oben liegende Scheitellappen verarbeitet nicht bewusst den inneren und äußeren Raum und die Tastsinnwahrnehmung. Er ist auch an Aufmerksamkeits- und Sprachprozessen beteiligt. Der Schläfenlappen verarbeitet die Sprache (linke Gehirnhälfte) und die Lebensgeschichte. Zu seinen Aufgaben gehören Seh- und Hörwahrnehmungen und das komplexe Sehen (Objekterkennung), im Hinterhauptlappen wird die Sehwahrnehmung verarbeitet.

Im Inneren des Gehirns liegt das Kleinhirn (Cerebellum), das nicht bewusst Bewegungen koordiniert und glättet, deren Stärke und Ausmaß beeinflusst und deren Ablauf korrigiert sowie beim Erlernen von Bewegungsmustern mitwirkt. Darunter liegt im Inneren der Hirnstamm, der an der nicht-bewussten Haltungskontrolle mitwirkt und das Zentrum der Atmungssteuerung ist. Im Textatlas Anatomie von Herbert Lippert und in vergleichbaren Büchern finden sich im Kapitel „Nervensystem“ Abbildungen, die dies veranschaulichen (vgl. Silbernagel/Despopoulos, S. 272 ff). Die Nerven führen im Inneren der Wirbelsäule im Rückenmark hin zu den inneren Organen und den nach außen arbeitenden Organen des Bewegungsapparats (Sehnen, Muskeln, Gelenke). In den Sehnen, Muskeln und Gelenken sowie in der Haut liegende Sinnesrezeptoren (Golgi-Sehnenorgane messen die Spannung, Muskelspindeln messen die Länge, Gelenkspindeln messen die Lage im Raum, Hautnerven messen Druck, Temperatur etc.; diese Haltung und Bewegung messenden Sinnesrezeptoren werden auch Propriozeptoren, also das eigene Gebiet messende Rezeptoren genannt) geben von dort eine Rückmeldung ins Gehirn. Das so genannte gammamotorische System steuert den Grundtonus der Muskulatur (Vorstartzustand) und die Feinabstimmung der Haltungs- und Stützmuskeln. Es ist die Verbindungsstelle zwischen Muskeltonus und Befindlichkeit. Dieses System ist besonders wichtig beim Gehen und Stehen und hilft mit bei der Auslösung von Eigenreflexen. Im Traumschlaf sinkt die Grundspannung auf ein Minimum, im Stress ist sie erhöht. Dieser Empfindlichkeitsbereich wird über das gammamotorische System gesteuert. Über die alphamotorisch genannten Nervenzellen (alphamotorisches Neuron) wird die Zielmotorik (Arbeitsmuskulatur) angesteuert, die den Muskel kontrahiert. Daher wird auch vom skelettmotorischen System gesprochen.

In der Gegend des Kopfs, wo wir in etwa einen Kopfhörer tragen, liegt zwischen Stirnlappen und Scheitellappen die Zentralfurche. Knapp davor ist im Frontallappen die motorische Karte lokalisiert (primärer motorischer Cortex). Auf der anderen Seite der Furche, im Scheitellappen, befindet sich die sensorische Karte (primärer somatosensorischer Cortex, die Karte für das Körpergefühl; vgl. Abb.). Die beiden Körperseiten sind dort in dieser besonderen Weise abgebildet. Man spricht von Karten, wenngleich es dort genau genommen keine Karten gibt, sondern sich Nervenaktivitäten messen lassen, parallel zur Wahrnehmung oder Aktion in Körperteilen, die dann von den Forschern kartiert werden. Die Bilder und Karten sind so nicht im Gehirn vorhanden sondern zeigen vereinfacht die Verhältnisse. Die Vorgänge im Gehirn sind weit komplexer, als die Abbildungen es darstellen. Die kleinste Einheit ist die Nervenzelle, die elektrische Impulse erzeugen und über eine Nervenbahn weiterleiten kann (sie „feuert“, vergleichbar einer Zündschnur). An den Übergängen zwischen dem Ende einer Nervenbahn und der nächsten Nervenzelle, den Synapsen, werden chemische Stoffe ausgeschüttet. Synapsen sind die Kontaktpunkte, Umschaltstellen, Weiterleitungsstellen, an denen der Impuls von einer Nervenzelle zu einer anderen übertragen wird. Etwa fünf- bis zehntausend davon befinden sich an zentralen Motoneuronen. Ein Axon ist der abgebende, impulsleitende Teil der Nervenzelle mit einer Länge zwischen 0,1 mm und 2 m. Der aufnehmende Teil wird Dendrit genannt. Die Nervenzellen leiten Aktionspotentiale (kurzfristige elektrische Impulse) weiter. Sie sind überall im Nervensystem gleichartig, so dass lediglich der Ort, an dem sie stattfinden, die Unterschiedlichkeit der Aktionen ausmacht. Prof. Pöppel hebt hervor, wie engmaschig dieses Netz ist. Dies zeigt sich in der Tatsache, dass jede Nervenzelle mit jeder anderen über maximal vier Zwischenstationen verbunden ist. Nach der Yogatheorie sind die Absicht und die nicht- bewusste Ausführung sorgfältig zu unterscheiden. Der bewusstseinsfähige Teil des Nervensystems trainiert den nicht-bewusstseinsfähigen Teil des Nervensystems (der die Durchführung der Aktion bewirkt). Dieses Miteinander ermöglicht psychosomatische Lernfortschritte.

Jede Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben und die das Gehirn gespeichert hat, wird vor einer Entscheidung im Gehirn miteinbezogen und wirkt bei der Entscheidung, die wir scheinbar spontan treffen, mit. Das Gehirn liefert uns sogar noch die Illusion, wir hätten bewusst und spontan entschieden – so erklärt es Prof. Roth, der sich als Hirnforscher mit Fragen der Psyche und der Psychotherapie beschäftigt hat. Sobald wir das wissen, ist die Illusion der Sicherheit, die uns die spontanen Ideen geben, relativiert. Einengende und schmerzliche Erfahrungen des persönlichen Lebens der Vergangenheit beeinflussen auf diese Weise die Gegenwart und die eigene Zukunft. Stress vermeiden oder, wie es in den Yogasutren heißt, „zukünftiges Leiden vermeiden“ ist daher eine der sinnvollen Perspektiven. Der Schmerzforscher Prof. Zieglgänsberger (SZ-Gesundheit, 4./5. Februar 2006) schlägt „Schmerzferien“ vor. Sich in der Gegenwart für das Nützliche zu entscheiden, das dann möglichst auch noch schmerzfrei und angenehm sein könnte, ist nach der Logik des Ayurveda und des Yoga die weitere Anregung. Immer wieder neue Offenheit für Erlebnisse aus der Vergangenheit, die noch heute (und damit auch für die Zukunft) ihre Auswirkungen haben, so dass diese Erlebnisse einer Neubearbeitung zugeführt werden können, ist daher sehr lohnend und ein unendlicher Lern- (Verbesserungs-) prozess.


Literatur:

• Bögle, Reinhard: Yoga - Ein Weg für Dich. Einblick in die Yoga-Lehre, Oesch-Verlag Zürich, 1991
• Bögle, Reinhard; Lüthi, Roland: Erfolgsfaktor Gesundheit, Bern/Stuttgart/Wien, 2000
• Bögle, Reinhard; Phadke, Sanjay; Phadke, Leena; Bhavsar, S.N.; Leye, Monika: Entspannung aus der Sicht des Yoga, Psychodynamische Psychotherapie 2010,Vol. 9, No.2, S.96-108
• Foerster, Heinz von: Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Paul Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit, München 19979, S. 39 – 60
• Pöppel, Ernst: Drei Welten des Wissens – Koordinaten einer Wissenschaft, in: Maar/Obrist/Pöppel: Weltwissen – Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, München 2000, S. 21 - 39
• Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewusstseins, Stuttgart 1988, (als Insel-Taschenbuch 2000 in überarbeiteter, 3. Auflage Frankfurt am Main und Leipzig neu erschienen)
• Spitzer, Manfred: Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg/Berlin, 2002
• Wie funktioniert das Gehirn? Auf dem Weg zu einer neuen Lernwissenschaft, herausgegeben von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, von etwa dreißig Staaten getragen) mit einer Einführung von Manfred Spitzer, Schattauer Verlag, Stuttgart 2005
• Spitzer, Manfred: Geist und Gehirn, DVD 1 und 2, München 2005, www.tr-verlag.de, erhältlich im BR-Shop
• SZ-Gesundheit: Das Gehirn kennt keine Löschtaste. Es vergisst Schmerzen nicht, aber durch richtiges Training ..., Süddeutsche Zeitung, vom 4./5. Feb. 2006, S. 10
• Silbernagel, S. / Despopoulos, A.: Taschenatlas der Physiologie, Stuttgart/New York 19832, bes. S. 272 – 295
• Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt/Main 2003 (stw 1596)